Frau Gieren und die Liebe und der Tod
Ich fuhr von Basel nach Düsseldorf, im Eurocityzug Nr. 255 genannt "Westfälischer Friede". Der Westfälische Friede beschloss anno 1648 den dreißigjährigen Krieg. Abgesehen von der Tatsache, dass der Zug unter anderem Westfalen durchquerte, hätte ihn die Bundesbahn niemals einfach nur "Frieden" genannt. Ohne Krieg kein Frieden. So war es immer. Benennbaren Frieden gibt es vor allem als Nachkrieg. Oder Vorkrieg. KriegFrieden. TodLeben. Leben und Tod. Auf der Fahrt erfuhr ich eine Geschichte dazu.
Ich sitze allein in meinem schrottreifen Plüsch-Abteil, auf dem durchgehinterten Fenstersessel in Fahrtrichtung mit Rheinblick. Es ist ein altgoldener Nachmittag. Der Frühherbst malt zögerlich seine Rosttöne in die Uferlandschaft.
Koblenz.
Eine Frau reißt die Abteiltür auf, trippelt herein, stemmt energisch ihren Koffer auf die Ablage und wirft sich auf den Fensterplatz mir gegenüber. Ich schätze ihr Alter auf Ende fünfzig. Sie hat ein kleines Gesicht, geprägt von drei kerbenden Falten: zwei senkrecht von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln, eine waagrecht von einem Auge zum anderen über die Nasenwurzel. Die braunen, mit hellen Strähnchen durchsetzten Haare sitzen tadellos in flottem Kurzhaarstufenschnitt. Die Vogelaugen haften nur Sekundenbruchteile an ein und demselben Punkt. Dann ruckt der Blick weiter, nach rechts, links, oben, unten, nah, weit. Ununterbrochen schliddert sie auf ihrem Platz, ich spüre, sie will unbedingt Redeblut ausspucken, sonst platzt ihr die Sprachader.
Unlustig halte ich mir eine offene Zeitung vors Gesicht. Plötzlich sticht mir der Geruch von Nagellack in die Nase. Reflexartig fixiere ich kurz meine rechte Hand, die Frau ergreift blitzschnell die Gelegenheit und sagt:
"Ich lackier mir die Nägel, das stört Sie doch nicht. Im Zug hab ich Zeit, ich bin nämlich berufstätig, da komm ich sonst nicht dazu."
Der Lack ist dunkelrot, die langen harten Nägel auf den Knubbelfingern verwandeln sich in Purpurklauen, sie pinselt schnell, die Finger bewegen sich wie Zacken eines Seesterns.
"Ich habe ein Café in Köln bei Chorweiler, im Einkaufszentrum, Café Gieren, läuft sehr gut."
Sie wirft sich unter der weissen Bluse mit dem Matrosenkragen in die Brust und rückt mit der Innenseite der Handgelenke den dunkelblauen Hosenrock zurecht. Die goldberingten Krallenfinger fahren zickzack. Zum Trocknen.
"Mein Mann fehlt mir hinten und vorne, jetzt muss ich alles allein machen - jetzt bin ich ganz allein. Der Krebs hat uns besiegt, wir haben gekämpft, es war wie ein Krieg, aber er war stärker. Fragen Sie nicht, was für ein Krebs. Es begann mit einem Muttermahl. Ich sagte, Franz, geh doch zum Arzt, aber er wollte ja nicht.
Ein paar Monate später wars, da kam er morgens um sechs aus der Backstube, ich kann nicht mehr, hauchte er und legte sich so komisch schief übers Bett. Dann wurde er ganz plötzlich bewusstlos. Ich ließ ihn sofort ins Krankenhaus bringen, es war ein Herzanfall und ein Gehirnkrampf, alles von diesem Krebs, aber das wusste ich noch nicht. Der Arzt sagte, Frau Gieren sagt er, es sieht ernst aus, benachrichtigen Sie Ihre Kinder.
Ich rief meinen Sohn in Koblenz an und sagte, Harald sag ich, dem Papa geht es schlecht. Mein Sohn und meine Schwiegertochter führen in Koblenz auch ein Café, läuft auch prima, da komm ich jetzt gerade her, ich habe sie besucht. Also, die hatten gerade ein Baby bekommen, den Philipp, der war ein paar Wochen alt. Der Opa hatte ihn noch nie gesehen, und in der Intensivstation schrie er offenbar immer Philipp, Philipp, und der Arzt hatte noch gesagt, Ihre Kinder sollen unbedingt den Philipp mitbringen, damit Ihr Mann wieder Lebensmut bekommt.
Mein Sohn hatte Angst vor der Fahrt, weil meine Schwiegertochter sich nicht wohl fühlte seit der Geburt, aber sie setzten sich trotzdem beide mit dem Philipp ins Auto und nahmen es auf sich. Auch meine Tochter, die im sechsten Monat war - sie kam selber frisch aus dem Krankenhaus, warum? weil sie das letzte Mal während der Schwangerschaft ihr Kind verloren hatte, und auch das neue wäre mehrmals fast abgegangen, deshalb musste sie diesmal die ersten Schwangerschaftsmonate komplett im Krankenhaus verliegen, aber wie gesagt, sie war gerade entlassen worden, und dann die Nachricht vom Papa, ein Schock - aber sie fuhr trotzdem los mit ihrem Mann, dem Martin, und sie heißt Martina, hat sich so ergeben.
Um sieben Uhr morgens waren wir vollzählig bei mir versammelt und gingen zu sechst ins Krankenhaus. Der Professor hat die Handteller vorgeschoben und gemauert: Sie dürfen doch nicht alle einfach so auf die Intensivstation. Aber mein Sohn sagte, Herr Professor, sagt er, es handelt sich um meinen Vater und mein Kind und meine Familie, das muss ich dann schon selbst entscheiden.
Toll der Junge, toll.
Wir also allemann hinein ans Bett. Der Wagen mit den Schläuchen und dem Gedöns wurde etwas zur Seite geschoben. Wir legten dem Franz, der kein Lebenszeichen von sich gab, das Enkelchen in den Arm. Und was passiert? Der Franz öffnet tatsächlich die Augen, und das Kind macht die Äuglein auf, und der Opa sagt: "Du bist ein echter Gieren. Ich will leben."
Meine Tochter stand daneben mit ihrem dicken Bauch und flüsterte: und da drin ist dein zweiter Enkel, Papa. Wissen Sie, es sollte ja ein Junge werden, ist es dann zwar nicht geworden, aber egal.
Ja, von da an ging es nochmal etwas besser. Aber später wurde untersucht; der Krebs sass schon überall, auch im Hirn. Ich hatte von einem neuen Serum gelesen, das soll Wunder wirken, aber es kommt aus Amerika, und hier gibt es nur einen einzigen Professor, der sich damit auskennt. Bis ich an den herankam, das war ein Theater, sag ich Ihnen. Er war natürlich auf Reisen, ich musste erst einmal drei kostbare Wochen warten. Dann wurde das Serum hergestellt, schwierig schwierig. Zum Teil aus dem eigenen Blut vom Franz, fragen Sie nicht, was sonst alles drin ist. Damit sollen ja die Killerzellen lahmgelegt werden. Aber es war zu spät, nach der dreißigsten Infusion starb er. --"
Ihre Finger tupfen über die feuchten Augen, die Kuppen reiben die Tränen weg, so dass der halbtrockene Nagellack nicht zerläuft.
'"Seither bin ich wie gelähmt", sagt sie. "Trotzdem hab ich keine Ruhe. Klingt verrückt, aber ist wahr. Ich fahr dahin und dorthin und wieder zurück. Ich bin ja gutgestellt, ich besitze ein Mehrfamilienhaus. In meiner Wohnung ist nichts verändert. er könnte jeden Moment wieder in unser Schlafzimmer kommen, der Franz. Das Bett, der Nachttisch, alles, wie es war. Sogar sein Buch liegt noch da, von Simmel, "Die Clowns weinen", oder so. Die Kinder liegen mir in den Ohren, Mama, lass doch renovieren. Ich sag, das kann ich nicht, noch nicht, kommt Zeit kommt Rat.
Das Café muss ich jetzt ganz alleine führen, aber ich hab seit der Gründung mitgearbeitet, heute läuft das Ding wie von selbst, und immer ist es voll, ob Sie's glauben oder nicht.
Vom Seniorenwohnheim nebenan kommen auch viele rüber. Und da ist schon mal so ein Witmann, der drängelt: wie wär's, Frau Gieren, wollen Sie nicht mit mir essen gehen? - Aber ich sag nee, sag ich, das will ich nicht mehr, nie mehr.
Ich lauf ja jeden Tag zum Friedhof. Einen tollen Platz hab ich gekriegt, in der ersten Reihe, ich muss an keinem anderen Grab vorbei.Gegenüber hab ich mir eine Bank hinstellen lassen. Mit Schildchen auf der Rücklehne: "Gespendet von Café Gieren". Das ist jetzt meine Bank, da sitz ich jeden Nachmittag so meine drei Stunden. Und frische Blumen aufs Grab, das mach ich auch jeden Tag.
Manchmal kommen noch andere Frauen dazu, jetzt sind wir schon fünf, die regelmässig zusammen auf der Bank hocken. Wie die Hühner auf der Stange. Und immer gibts was zu erzählen.
Frau Klapp ist die netteste, erst einundfünfzig und auch schon den Mann verloren, eine seltene Krankheit, da zerbrechen die Knochen wie dünnes Glas. Und so ein Witmann streicht gelegentlich vorbei, ach, der ist weit über siebzig, hören tut er nimmer gut, laufen kann er nimmer gut, aber angeben wie ein Wald voll Affen. So ein Kaffeefahrtencasanova ist das.
Wenn eine von uns Frauen weg ist, dann pflegen die anderen solang das betreffende Grab. Neulich wollte die Frau Klapp in Urlaub fahren und sagte: Wenn ihr meine Blümkes nicht anständig gießt, dann mach ich euch kalt. Dann mach ich euch kalt, sagt die, und das auf dem Friedhof. Zum Schreien.
Das Grab vom Franz ist wunderschön, ein flacher dunkler Stein, liegend, nach hinten schräg hoch, wie ein Kissen. Darauf der Name, und geboren/gestorben, und dann der Spruch, den hab ich selbst gedichtet:
"Du sitzt auf der Wolke und schaust auf mich herab,
Und siehst, ob ich wein oder lach."
Weil er in der letzten Zeit immer aus dem Fenster geblickt und gesagt hat: Wenn die Wolke da vorüber ist, sterb ich vielleicht, und dann schau ich zu dir hinunter.
Ach wissen Sie, er hatte es ja schon zwei Jahre vorher gewusst, also gespürt hatte er es, nicht direkt gewusst. Und hatte es auch den Freunden gesagt, allen, nur mir nicht, er habe das Gefühl, er mache es nicht mehr lange. Aber er wollte halt nicht Versuchskaninchen für die Ärzte spielen. Lieber nicht dran denken und das Leben noch genießen. Plötzlich immer auf Bälle und Feste, das war sonst gar nicht seine Art, und alles noch mitnehmen, verstehen Sie.
Silvester vor zweieinhalb Jahren hat er sogar eine Suite im "Maritim" in Bonn gemietet. Da sollte der Harald Juhnke auftreten, kennen Sie bestimmt, der berühmte Show-Master. Der ist dann doch nicht gekommen, man kann sich denken warum, der Schluckspecht, war sowieso meistens zu besoffen, das wusste jeder.
Aber es war trotzdem wunderschön. Eine tolle Schau. Und eine Musik! Da konnte man nicht anders, man musste das Tanzbein schwingen. Der Franz hatte mir ein Ballkleid gekauft, in tiefrot, mit einem Ballonrock, wie es Mode war, und vorn eine Riesenschleife, alles dran. Und dann hat er mir an dem Abend eine Schmuckschachtel überreicht. Da war ein Brillantarmband drin, ungelogen. Ich sag, diesmal hast du aber richtig zugeschlagen, Franz, und er sagt, du sollst wissen, dass ich dich geliebt habe. Geliebt habe, sagte er, zweieinhalb Jahre vor seinem Tod, und: pass auf dich auf."
Die Tränen laufen übers Gesicht und werden nicht mehr weggewischt.
"So ein Mann, nun sagen Sie selbst, so einen find ich doch nie wieder. Das meinen auch die Kinder. Mama, die wollen doch alle nur dein Geld. Was meinen Sie, vielleicht stimmt das. Der Franz verlangte immer, ich soll ihm versprechen, dass ich nie wieder heirate. Du bist gut versorgt, was willst du mehr. Aber ich sagte, Franz, sag ich, alles tu ich für dich, alles, aber bitte verlang nicht, dass ich dir dieses eine verspreche, so etwas kann man einfach nicht versprechen.
Wer weiss, was das Leben noch bringt? Wer kann das voraussehen? Wer kann sagen ja oder nein, hü oder hott, auf oder ab? Jetzt hab ich zunächst einmal Angst, was wird, wenn der Winter kommt. Dann kann ich nicht mehr stundenlang auf dem Friedhof sitzen mit den anderen Frauen. Und mit unserem Kaffeefahrtencasanova. Wir haben schon gesagt, wir verfassen eine Eingabe an die Stadt Köln, die sollen da ein Wartehäuschen hinstellen, mit Heizung wohlgemerkt, wie auf dem Bahnhof. Das geht natürlich nicht, aber was haben wir gelacht. ich hätte nie geglaubt, dass es auf dem Friedhof so locker und lustig zugehen kann."
Eine Erzählung aus dem Geschichtenbuch, erschienen im „Neuen Rheinland“
©Vera Forester